Aufruf in Alltagssprache

Zu oft noch hat unsere Hölle einen Namen: sie heißt Normalität. Denn diese Normalität ist die Normalität der anderen. In ihr sind wir oft immer noch Fremde, für manche gar Perverse. Sie macht, dass sich unsere eigenen Wünsche und Träume, unsere geheimsten Sehnsüchte gegen uns richten: weil sie uns abweichen lassen, irgendwie komisch machen. Wir erfinden dagegen unsere eigenen Begriffe und Kategorien, um die Lücken der Sprache zu füllen, kämpfen uns heraus aus dem Niemandsland des Begriffslosen und ersticken trotzdem noch viel zu häufig an unserer Sprachlosigkeit. Für viele junge Queers scheint die Welt auf diese Weise nach wie vor zu eng geschnürt.

Im Jahr 2019 findet das 50. Jubiläum der Stone-Wall-Riots statt, die ein wichtiger Startpunkt für die organisierte LSBT*IQ*-Bewegung waren. Die Christoper Street in New York. Dort widersetzten sich Ende der 1960er Jahre queere Menschen, die in der New Yorker Christopher Street ihre Szenetreffpunkte hatten, der immer wieder auftretenden Gewalt und Schikane seitens der Polizei, die ständig Bars stürmte, Razzien durchführte und so drohte, die queere Subkultur, die sich dort entwickeln konnte, zu zerstören. In der Nacht des 28. Juni 1969 kam es dann zum großen Protest gegen diese Polizweigewalt und damit auch gegen ein System, das nicht heterosexuelle und nicht cis-geschlechtliche Menschen als „krank“ und „unmoralisch“ ansah. Die Stonewall-Riots sind stehen seitdem für Solidarität und Empowerment von LSBT*IQ*-Menschen im gemeinsamen Kampf gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung und für das Recht, frei leben und lieben zu dürfen. An diese Kämpfe soll der jährlich stattfindende Christopher-Street-Day (CSD) erinnern.

Auch heute – ein halbes Jahrhundert später – gibt es noch Diskriminierung und Gewalt gegen queere Menschen. Diese Diskriminierung begegnet uns nicht nur in der Form von Vorurteilen und abwertenden Haltungen in den Köpfen der Menschen, sondern auch in dem Aufbau der Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen, die heteronormative Lebensweisen privilegieren und fördern, während sie davon abweichende Menschen benachteiligen und ausgrenzen. Besonders Queers of Colour so wie Menschen deren Auftreten weder „typisch männlich oder weiblich“ ist, spüren heute immer noch diese Gewalt und Diskriminierung. Wie damals richtet sie sich auch heute gegen linke Orte und Häuser, die – wie das Stonewall Inn – Schutzräume für Queers sind.

Für viele ist queer leben nach wie vor mit der verletzenden Erfahrung der Ausgrenzung und Abwertung verknüpft.
Vor allem jungen LSBT*IQ* wird dabei in unserer Gesellschaft nach wie vor viel abverlangt: einen positiven Bezug zu sich selbst aufzubauen in einer Gesellschaft, in der queere Personen und Lebensweisen in der Öffentlichkeit kaum sichtbar sind und uns überall noch veraltete Vorstellungen begegnen, die Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit als „natürlich“ und „normal“ darstellen und queere Menschen somit in den Bereich das „Abnormalen“ und „Unnatürlichen“ und damit irgendwie weniger wertvollen und akzeptablen rücken.
Diese engen Vorstellungen Normalität beschränken unsere Träume und Existenzmöglichkeiten. Sie schließen Personen aufgrund ihrer Körper, ihres Aussehens und Auftretens aus dem Bereich dessen aus, was gesellschaftlich als gutes Leben anerkannt wird, und bringen Menschen dazu, sich selbst zu verachten – die eigene Sexualität, die eigene Identität.
Auch 50 Jahre nach Stonewall ist der Kampf um Existenzberechtigung für viele Queers immer noch Alltag. Leider ist von diesem Kampf auf dem großen Berliner CSD nicht mehr viel zu sehen. Zwischen Bundeswehr, Axel Springer Verlag und Bayer AG scheint es hier kaum mehr möglich, an das radikale politische Erbe anzuknüpfen. Vielmehr ist der große Berliner CSD ein Beispiel dafür wie manche Teile der queeren Community sich an ein System anpassen, das immer noch größtenteils queerfeindlich ist. Beim Mainstream-CSD laufen diejenigen Organisationen und Konzerne mit, die dazu beitragen, das Leben für zahllose Menschen unsicherer zu machen. Es laufen die mit, die Säulen eines ausbeuterischen, sexistischen und rassistischen Systems sind, in dem queere Menschen vor allem dann akzeptiert werden, wenn sie möglichst weiß, cis und bürgerlich-angepasst sind. Viele Queers lassen sich dabei allzu leicht einspannen, um das Image dieses Landes aufzupolieren und Deutschland als aufgeklärt, weltoffen und tolerant erscheinen zu lassen, wo es in Wahrheit immer noch rückwärtsgewandt, engstirnig und diskriminierend ist. Dabei schwingen oft rassistische Vorstellungen mit, wenn so der Eindruck erzeugt wird, dieses angeblich so „tolerante“, „homofreundliche“ und „feministische“ Deutschland würde nun durch Menschen, die neu ins Land kommen und angeblich aus „queer- und frauenfeindlichen Kulturen“ stammen, bedroht.
Der Mainstream-CSD ist ein klarer Beweis dafür, dass queere Communities und „Subkulturen“ selber alles andere als frei von Diskriminierung und Übergriffigkeit sind. Immer wieder bekommen Menschen hier Kommentare für ihren Körper, ihre Art sich zu kleiden oder müssen damit rechnen, gegen ihren Willen angefasst zu werden. Wir wollen mit der Demo auch einen Ort schaffen, der für viele Queers hoffentlich mehr Sicherheit bietet, als der Mainstream-CSD.

Mit unserer Demo setzen wir ein Zeichen gegen die Ignoranz und Anpassung an das herrschende System. Wir wollen an das radikale Politische Erbe queerer Kämpfe erinnern und daran anknüpfend klarstellen, dass diese Kämpfe sich nicht mit ein paar Reformen wie der Homo-Ehe oder dem drittem Geschlechtseintrag erledigen. Stattdessen müssen diese Kämpfe weitergehen und sich mit anderen politischen Kämpfen gegen ein System verbinden, das zahllosen Menschen wegen ihrer Sexualität, ihrem Geschlecht und Körper, ihrer ökonomischen Lage, Nationalität oder Hautfarbe nach wie vor Freiheit und Gleichheit verweigert.
Wir tragen mit der Demo den Kampf für eine wirklich freie Gesellschaft auf die Straße – eine Gesellschaft in der Queers und alle anderen stolz auf sich sein können, ohne sich an die herrschenden Normen anpassen zu müssen. Das bedeutet für uns eine Wiederaneignung von Pride in Opposition zu dieser fast vollkommen ent-politisierten und kommerziellen Party-Parade.

Let’s get critical – Pride is political!
Some of us still fight for their basic rights to exist!