Aufruf

Zu oft noch hat unsere Hölle einen Namen: sie heißt Normalität. Denn diese Normalität ist die Normalität der anderen. In ihr sind wir teilweise immer noch Fremde, für manche gar Perverse. Sie macht, dass sich unsere eigenen Wünsche und Träume, unsere geheimsten Sehnsüchte gegen uns richten: weil sie uns abweichen lassen, irgendwie komisch machen. In der heterosexistischen Gesellschaft sind nur wenige Geschlechts- und Sexualitätsentwürfe mit Anerkennung verbunden, unsere können im cis-hetero-privilegierenden Normenkorsett zu Motoren von Selbstverachtung werden. Ekel und Sehnsucht, Träume und Scham. Wir erfinden uns unsere eigenen Begriffe und Kategorien, um der existenznegierenden Lücke binärer Sprachsysteme zu begegnen, kämpfen uns heraus aus dem Niemandsland des Begriffslosen und ersticken trotzdem noch viel zu häufig an unserer Sprachlosigkeit. Für viele junge Queers scheint die Welt auf diese Weise nach wie vor zu eng geschnürt.

2019 jähren sich zum 50. Mal die Stonewall-Riots, die das Ergebnis massiver Polizeigewalt gegen LSBT*IQ* waren. Für viele Queers markieren sie einen Wendepunkt in der Geschichte um Anerkennung: gemeinsam wurde sich in der Nacht des 28. Juni 1969 einer Gewalt widersetzt, die Ausdruck eines hegemonialen heteronormativen Systems war, das Lebensformen jenseits der heterosexuellen und cis-geschlechtlichen Norm pathologisierte, kriminalisierte und mit dem verletzenden Stigma des devianten-anderen versah. So wurden die Stonewall-Riots für viele LSBT*IQ* zu einem Synonym für Empowerment und Solidarität sowie dem gemeinsamen Kampf um Ent-Stigmatisierung und basal Rechte, an die im Rahmen des jährlichen Christopher-Street-Day (CSD) erinnert wird.

Auch heute – 50 Jahre später – gibt es noch polizeiliche Repression und Gewalt gegen Queers. Sie ist strukturell, institutionell sowie interpersonell und betrifft vor allem Queers of Colour und queere Geflüchtet (die es im rassistisch strukturierten Behördensystem Deutschlands besonders schwer haben, anerkannt zu werden), gender-non-konforme Personen, trans* und inter sowie Menschen, deren Lebensformen aus anderen gesellschaftlichen Normen herausfallen. Wie damals richtet sie sich auch heute gegen linke Orte und Häuser, die – wie das Stonewall Inn – Schutzräume für Queers sind. Sie kommt in Gesetzgebungen und Geschlechtszuweisungen zum Ausdruck, in Prozessen von Rassifizierung und der Privilegierung spezifischer Familien- und Beziehungsentwürfe.

Für viele ist queer leben nach wie vor mit der verletzenden Erfahrung der Markierung als anders und weniger wertvoll verknüpft. Immer noch erleben Queers Pathologisierung und Hass, der sich im Spiegel hetero- und cis-hegemonialer Normierungen von Körpern, Lebens- und Liebesformen auch gegen die eigene queere Identität richten kann und dort die Kräfte und Energien verdunkelt, die eigentlich in uns stecken.

Vor allem jungen LSBT*IQ* wird in unserer Gesellschaft nach wie vor viel abverlangt: einen positiven Bezug zu sich selbst vor dem Hintergrund repräsentationslogischer Unsichtbarkeit und überall wirksamer hetero- und cis-normativer Normal- und Natürlichkeistvorstellungen zu entwickeln.
Diese restriktiven Natürlichkeitsvorstellungen beschränken unsere Träume und Existenzmöglichkeiten. Sie schließen Personen aufgrund von Verkörperungen aus dem Bereich des allgemein Menschlichen aus, verwerfen Formen des Lebbaren, rassifizieren und pathologisieren. Sie bringen Menschen bei, sich selbst zu verachten – die eigene Sexualität, die eigene Identität.

Normalität speist sich aus Queerfeindlichen und antifeministischen Vorstellungen von Körper, Identität, Familie und Sexualität, die sowohl bürgerlich-gemäßigte Milieus als auch fundamentalistische Strömungen bis hin zur extremen Rechten anzusprechen und als Schnittstelle zu vereinen vermögen.

Auch 50 Jahre nach Stonewall ist der Kampf um Existenzberechtigung insofern für viele Queers alltäglich. Leider ist davon auf dem großen Berliner CSD nicht mehr viel zu sehen. Zwischen Bundeswehr, Axel Springer Verlag und Bayer AG scheint es hier kaum mehr möglich, politische Inhalte zu platzieren. Vielmehr ist der große Berliner CSD ein Beispiel dafür wie manche queere Strukturen gefährliche Allianzen mit einem neoliberalen, toxischen System eingehen, das immer noch größtenteils queer_feindlich strukturiert ist. Hier laufen diejenigen Institutionen und Konzerne mit, die dazu beitragen, das Leben für Queers unsicherer zu machen. Es laufen Strukturen und Institutionen mit, die Säulen eines neoliberal-kapitalistischen, hetero-cis-normativen und rassistischen Systems sind, das queer Subjekte primär dann in die eigenen Privilegienstrukturen integriert, wenn sie möglichst weiß, cis und bürgerlich-angepasst sind und sich dazu eignen, ein homophobes, rassistisch-markiertes Individuum als devianten Anderen einer vermeintlich liberalen und aufgeklärten, westlich-modernen Gesellschaft zu konstruieren.

Der große Berliner CSD ist zudem ein eindrücklicher Beleg, dass auch queere Communities und Szenestrukturen selber alles andere als frei von Diskriminierung und Übergriffigkeit sind. Immer wieder bekommen Menschen hier Kommentare für ihren Körper, ihre Art sich zu kleiden oder müssen damit rechnen, gegen ihren Willen angefasst zu werden.

Wir möchten mit unserer Demo einen Ort schaffen, der für viele Queers hoffentlich mehr Sicherheit bedeutet, als der große CSD. Wir möchten den Kampf für eine Gesellschaft auf die Straße tragen, in der Queers stolz auf sich sein können – und das nicht trotz oder gegen ein heteronormatives Systems. Das bedeutet für uns eine Wideraneignung von Pride und deren erneuter politischer Aufladung in Opposition zu einer weitesgehend ent-politisierten, kommerziellen Party-Parade.

Let’s get critical – Pride is political!
Some of us still fight for their basic rights to exist!